Samstag, 6. Oktober 2012

Wie sie uns zu Rassisten machten



Meine Schwester sagt, wir sind schon mit Rassismus aufgewachsen, und viele rassistische Strukturen hätten wir längst inkorporiert und wir seien uns ihrer gar nicht mehr bewusst. Mit wir meint sie tatsächlich uns. Eine schreckliche Bestandsaufnahme. Ich bin aufgewühlt durch diese Feststellung und will mich regelrecht dagegen wehren, denn ich will ja kein Rassist sein: ich lehne Rassismus in jeder Hinsicht ab. Doch wenn diese Feststellung trotzdem stimmt, heißt das: auch ich habe rassistische Denkweisen verinnerlicht, und zwar, weil ich mit dem mich umgebenden Rassismus aufgewachsen bin. Ich komme ins Grübeln, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Beispiele von Rassismus fallen mir ein, die mich schon seit frühester Kindheit begleiten. Und wenn ich davon ausgehe, dass ich kein Einzelfall bin, sondern dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen handelt, dann lautet die Konsequenz für unsere Gesellschaft:

Rassismus strukturiert unser Denken, zumindest zu einem bestimmten Grad. 

Der Grad von Rassismus ist zwar nicht genau an dem Maß von Rassismus festzumachen, mit welchem wir in unserer prägenden Phase der Erziehung ausgestattet worden sind. Es ist aber trotzdem sinnvoll, diesem Grundrassismus erst einmal nach zu gehen, von dem aus wir uns später entweder in einem reflexiven Prozess entfernen und emanzipieren, beziehungsweise durch welchen wir unterbewusst rassistisch handeln, denken, strukturiert sind und wiederum rassistisch strukturieren. Dazwischen liegt eine Grauzone. Dieser latente, durch Erziehung angelegte Grundrassismus bietet eine ideale Basis für weitere Steigerungen ins Rassistische.

Zwei Lieder aus der Kindergartenzeit bringen all das vielleicht am besten auf den Punkt, da Rassismus nicht so etwas wie ein Wetter ist, das uns umgibt und einfach auf uns abfärbt (oder doch?). Beim ersten Lied handelt es sich um ein Lied, das sich wahrscheinlich in vielen in Deutschland aufgewachsenen Menschen, die einen Kindergarten besucht haben, wie ein Ohrwurm festgesetzt hat. So sehr, dass es mir vor kurzem wieder hochkam  – fast 30 Jahre später. Ich stand eines grau bewölkten, stürmischen Neuköllner Herbsttages im Jahr 2008 in der Küche und träumte in den Tag hinein, als auf einmal diese Blase aus der Vergangenheit ohne jede Vorwarnung in mir aufstieg und an der Oberfläche in Form eines Liedtextes zerplatzte. Der Text des Liedes lautet:

Dreeeeeeiiiii Chinesen mit dem Konnnnn-traaaaa-bassssss, sitzen auf der Straße und erzääääääh-len sich was, da kommt die Po-li-zei: Ja was issssst denn das?! Dreeeeeeiiiiii Chinesen mit dem Konnnnn-traaaaa-basssssss!

Kurze Analyse: Der Kontrabass ist ein schriller Zusatzposten in dem Liedtext. Wesentlicher ist die knappe, simple Moral des Liedes: es ist nicht in Ordnung, dass drei Chinesen auf der Straße, also in der Öffentlichkeit, anwesend sind. Störend und Gegenstand öffentlichen Ärgernisses scheint nicht der Kontrabass an sich darzustellen. Es könnte zwar als öffentliches Ärgernis empfunden werden, wenn jemand in aller Öffentlichkeit Kontrabass spielt, aber das ist in dem Lied nicht der Fall. Drei Chinesen erzählen sich etwas – das scheint neben ihrer bloßen Anwesenheit das Problem zu sein. Womöglich erzählen sie sich etwas auf Chinesisch, wobei das der kindlichen Phantasie überlassen bleibt und mit der landläufigen Vorstellung korrelliert, Chinesisch könne gar nicht beherrschbar sein. Das ganze ist so inakzeptabel, dass der Ordnungshüter, die Polizei, eingreifen muss. Das Lied fordert also von den Kindern, drei Chinesen auf der Straße nicht ohne weiteres zu akzeptieren, ob mit oder ohne Kontrabass. Vielleicht unterstreicht der Kontrabass, der von der Kindergärtnerin als Instrument erst einmal erklärt werden musste, durch seinen dumpfen, dunklen Klang noch das Groteske und Ungehörige an der Anwesenheit dreier Chinesen auf der Straße, die sich etwas erzählen. Das Kind soll es als etwas normales empfinden, wenn die Polizei einschreiten muss, weil sich drei Chinesen in aller Öffentlichkeit etwas erzählen. Es geht also um die inakzeptable Anwesenheit chinesischer Menschen in der Öffentlichkeit und den Appell, in einer solch inakzeptablen Situation die Polizei zu rufen.

Doch nicht genug mit dem unverhohlenen Rassismus im Text des Liedes. Das Lied wurde nicht einfach so zum Ohrwurm - sondern durch unzähliges, litaneihaftes Wiederholen. Dabei wurden in jeder Strophe die Vokale ersetzt, und zwar alle Vokale durch einen einzigen Ersatzvokal - wie "i": Dri Chinisin mit dim Kintribiss, die sißin if dir strißi ind irzihltin sich wis, di kim die pilizi ji wis ist dinn dis, dri Chinisin mit dim Kintribiss. Danach kamen alle anderen Vokale ("e", "a", "ä", "o", "ö", "u", "ü") auch noch an die Reihe - bis schließlich sogar alle Diphthonge eingesetzt wurden: Drau Chaunausaun maut daum Kauntraubauss, saußaun auf daur Straußau aund aurzaultaun sauch waus, dau kaum dau Paulauzau ja waus aust daun daus, drau Chaunausaun maut daum Kauntraubauss. Das war gar nicht so einfach. Man musste sich den Text so gut merken, dass die eigentliche Schwierigkeit im gemeinsamen Vorsingen, nämlich im Einklang mit allen anderen an jeder Stelle den richtigen Ersatzvokal einzusetzen, überhaupt gemeistert werden konnte.

Ein anderes Kinderspiel, das überliefert wurde, hatte einen ähnlichen Narrativ, spielte aber auf den schwarzen Mann an: alle Kinder stellen sich im Kinderspiel unter Anleitung in einer Reihe nebeneinander Schulter an Schulter auf und blicken auf das Kind gerade gegenüber, das den schwarzen Mann spielt und auf einer gedachten Parallellinie steht. Das Kind, das anfangs alleine den schwarzen Mann spielt, schreit laut alle anderen Kinder an

„Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“

Darauf antworten alle „Niemand!“, worauf das schwarze-Mann-Kind schreit: „Und wenn er aber kommt?“ 

Alle antworten schreien im Chor:  

„Dann laufen wir davon!“

Genau in dem Moment rennen alle los und müssen die gedachte Linie auf der anderen Seite erreichen und dem Kind, das den schwarzen Mann spielt, entkommen. Wer von dem Kind, das den schwarzen Mann spielt, berührt wird, muss sich mit diesem auf der Linie gegenüber den noch nicht schwarzen Kindern aufstellen, ist jetzt ebenfalls ein schwarzer Mann, und muss mit dem Kind, das den schwarzen Mann ursprünglich alleine gespielt hat, die anderen Kinder beim gleichen Spiel fangen und schwarz machen. Gewonnen hat, wer es am längsten durchhält, dem schwarzen Mann zu entkommen.

Auch hier ist die Botschaft ganz simpel, auch wenn sie etwas verändert ist: im Gegensatz zu dem Lied mit den drei Chinesen, deren Anwesenheit inakzeptabel ist, wird hier zusätzlich Angst vor dem schwarzen Mann vermittelt, von dem man sich zu hüten hat. Man soll weglaufen, wenn man einen schwarzen Mann sieht, ist die Botschaft dieses Spiels, das sich ebenfalls in den Köpfen festsetzt, indem es unzählige Male wiederholt wird. So lange, bis alle schwarz geworden sind.